Türkei Kurden

Wahl in der Türkei – Erdogan’s Jünger nicht mehr Alleinunterhalter, was nun?

Zwei Tage ist nun die türkische Parlamentswahl her und die anfängliche Euphorie wandelt sich langsam aber sicher in Ernüchterung. Zu Beginn möchte ich zum Besten geben, dass die ganze Konstellation sehr konfus, widersprüchlich und als Türkeifremder nicht einfach zu durchblicken ist, deswegen versuche ich es so einfach wie möglich zu machen.

Die AKP von Premierminister und Erdogan-Marionette Davutoglu ist mit dem Ziel von 400 Parlamentssitzen in die Wahl gegangen. Eine Zweidrittelmehrheit und die Möglichkeit, das Grundgesetz zum eigenen Vorteil zu ändern, sollte die Konsequenz sein. Letztendlich kommt die AKP auf 258 Sitze. Die vor 13 Jahren von den EU-Staaten als gemildert-islamisch und dennoch fortschrittlich gehypte Partei ist gescheitert. Jetzt mag man sich bei einem Zuspruch von 40% fragen, wo denn hier ein Scheitern zu erkennen sei. Eine Partei, die seitdem sie an der Macht ist, noch nie einen Koalitionspartner brauchte, von einem Wahlergebnis von 49% kommend einen derartigen Verlust erleidet, alle finanziellen und strukturellen Möglichkeiten des Staates zu Wahlkampfzwecken nutzt (beispielsweise die Nutzung von städtischen Bussen, um Anhänger kostenlos zu Lasten des Steuerzahlers zu AKP-Wahlkampfveranstaltungen zu transportieren), mit einem Staatspräsidenten im Rücken, dem Neutralität ein Fremdwort ist, kann man getrost zum Verlierer küren.

„Menschenrechte hin oder her, Pressefreiheit nun gut, auch nicht so wichtig. Vetternwirtschaft, na ja, haben die davor ja auch gemacht, wenigstens arbeitet die AKP auch und baut die Infrastruktur aus“, waren antrainierte und reflexartige Ausreden, wenn es um das kritische Hinterfragen des Supports der AKP-Anhänger gegangen ist. Ein sogenannter „Militärstaat“, wie westliche Medien die Türkei gerne vor der Erdogan-Ära bezeichnet haben (dumm nur, dass das Militär DIE Institution im Lande ist, die vom Volk am meisten Vertrauen genießt), ist zu einem wahren Polizeistaat geworden, der durch den „Sultan“ beherrscht wird. Journalisten, hochrangige Militärs, Politiker, wurden nach Belieben und Gefahreneinstufung eingesperrt, um den Machterhalt der Regierungspartei zu garantieren. Dieses Verhalten wurde lange Zeit durch die Masse toleriert, teils ermöglicht durch jahrelange Gehirnwäsche, teils durch Repression und teils auch dadurch, dass das eigene Portmonnaie immer gut gefüllt war. Die Gezi Proteste stellten, anders als in den europäischen Medien dargelegt, nicht die Mehrheit der Bevölkerung dar. Jetzt wo merklich eine Krise vor der Tür steht, die Wirtschaft mit Problemen zu kämpfen hat und auch der kleine Mann um seine Selbständigkeit bangen muss, ändert sich das Klima im Land. Gleichzeitig haben auch die Oppositionsparteien erstmalig seit langer Zeit, auch wenn teilweise ökonomisch fragwürdig, Projekte vorgestellt, die den Bürgern und vor allem Rentnern eine bessere Zukunft versprechen. Nebenher wurde alles dafür getan, dass die kurdische HDP die 10%-Hürde knackt, um die Machtverhältnisse im Parlament neu zu regeln.

Die AKP verliert die absolute Mehrheit und theoretisch haben die restlichen Parteien jetzt die einmalige Chance, die Machenschaften der letzten 13 Jahre vor allem strafrechtlich auf den Prüfstand stellen zu lassen und die Funktionäre der AKP vor den obersten Gerichtshof zu bringen. Dazu braucht es aber eine Koalition, eine Koalition zwischen den Kemalisten der CHP, den Nationalisten der MHP und der kurdischen Partei HDP. Mit der AKP will übrigens niemand koalieren, laut letztem Stand auch nicht die traditionellen Steigbügelhalter von der MHP. Wie realistisch ist aber eine Koalition von CHP, MHP und HDP?

Die Wahrscheinlichkeit liegt nahezu bei Null. Die sozialdemokratisch geprägte CHP könnte durchaus mit der nationalistischen MHP, umgekehrt genauso. Die CHP würde mit ihrem alevitischstämmigen Vorsitzenden sogar mit den linksgerichteten Kurden sprechen. Nicht umsonst hat der Vorsitzende der CHP, Kilicdaroglu, vor der Wahl kein negatives Wort über die HDP verloren und sogar eine Wählerwanderung von seiner Partei zur HDP riskiert, um die Macht der AKP im Parlament zu schmälern. Allerdings ist hier die Frage, wie der harte Kern der Partei, sowohl Mitglieder, als auch Wähler, auf solche Gespräche reagieren würden. Letztendlich geben sich die Kurden als moderne Partei, mit liberaler Weltanschauung und einer Wirtschaftspolitik links der Mitte, ähnlich wie die CHP.

Das Misstrauen vieler Bürger ist allerdings groß. Einige Funktionäre der HDP haben entweder Verwandte bei der PKK oder waren selbst einmal Mitglied der Terrororganisation. Offenkundig wird auch mit dieser sympathisiert, was man regelmäßig auf Großkundgebungen der Partei mitverfolgen kann, und auch die Aussage, dass Öcalan der Führer der Kurden sei, führt zu diesem Schluss. Ein Geheimnis macht die HDP jedenfalls nicht daraus. Sie warb vor der Wahl regelmäßig mit Frieden, Freiheit und Gleichstellung aller „Völker“ in der Türkei und versprach auch nach der Wahl einen verantwortungsvollen Umgang mit deren „Leihstimmen“. Von Leihstimmen kann tatsächlich die Rede sein, da die Partei dieses Potential an Wählern einfach demographisch gesehen noch nicht aufweist. Viele Türken haben sich von den Aussagen der Kurden überzeugen lassen und hofften gleichzeitig mit dem Einzug der HDP auf den Untergang der AKP. Weit gefehlt. Die MHP würde in tausend Jahren nicht auf die Idee kommen, mit der HDP zu sondieren, da die HDP und ihre Vorgängerparteien seit je her als Staatsfeinde Nummer 1 gelten. Unter diesen Umständen bleiben kaum realistische Optionen für eine stabile Koalition. Vielleicht eine Minderheitsregierung der CHP und der MHP und Unterstützung der HDP aus der Opposition. Neuwahlen bleiben die einzige Alternative. Und dann kann die politische Welt der Türkei schon wieder ganz anders aussehen.


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