In der vergangenen Woche waren zum ersten Mal zwei Artikel zum gleichen Thema auf Guns and Burgers zu lesen, die vermeintlich gegensätzliche Positionen darstellten. Worin liegen die Ursachen hierfür begründet und wie konträr sind die Meinungen wirklich?
Tatsache ist, dass an dieser Stelle ein Dilemma der Medienberichterstattung sichtbar wurde, und zwar das der unvollständigen Informationslage. Wir kennen zum Sachverhalt Lucke vs. FC-Fans nur sehr wenige Details. Alles was wir wissen ist, dass AfD-Chef Lucke in einem ICE auf Kölner Fans traf, die sich auf dem Rückweg vom Auswärtsspiel in Berlin befanden. Sie forderten ihn auf, den ICE zu verlassen, weil man dort keine Nazis wolle, was Lucke allerdings nicht tat, sondern die Polizei verständigen ließ, die jedoch nicht eingreifen musste. Es kam zu keinen Handgreiflichkeiten. So weit, so gut. Um diese Szene jedoch korrekt bewerten zu können, ist die Informationslage allerdings sehr gering. Die Konsequenz ist, dass jeder Leser die Informationslücken gedanklich schließt, um ein vollständiges Bild im Kopf zu haben. Dabei ist es logisch, dass man sich mangels Fakten auf eigene Erfahrungen, Kenntnisse, Vorurteile, Stereotypen und Phantasie verlässt. Dies wurde hier ganz deutlich.
Die eine Sichtweise: Der Luxusfan mittleren Alters ohne Aggressionspotenzial
In meinem Artikel vom Dienstag wurde das Bild, das ich bei der Bewertung der Lage im Kopf hatte, wie folgt ausgeschmückt: Als Fußballfan, der selber hin und wieder zu Auswärtsspielen seiner Mannschaft fährt, weiß ich, welche Fans in der Regel welches Verkehrsmittel nutzen. Die harten Jungs, die sich auch gerne mal daneben benehmen, fahren in aller Regel mit Ihresgleichen im Sonderzug oder im gemeinsam gemieteten Bus. Der junge Fan mit wenig Budget hockt sich meistens mit vier Freunden in seinem alten VW Polo und nimmt die rund 600 km mit Abstrichen beim Komfort auf sich. Welche Fans nutzen also den ICE? Aus meinen Erfahrungen ist der typische ICE-Auswärtsfahrer zwischen 40 und 60 Jahre alt, Familienvater, vielleicht sogar frisch gebackener Großvater und aus der gehobenen Mittelschicht – da gönnt man sichschon mal das luxuriöse ICE-Ticket. Bei Heimspielen meistens mit einer Dauerkarte unterwegs – Sitzplatz auf der Gegengerade, wenn man schon Geld ausgibt, dann muss es auch dekadent sein. Im Winter leicht zu erkennen am Sitzkissen aus dem offiziellen Fanshop, man will sich ja schließlich nicht die Blase erkälten. Auch im ICE zu identifizieren am FC-Schal aus dem offiziellen Fanartikel-Katalog, den er voller Stolz um den Hals trägt. Im Ergebnis: Keinerlei Gewalt- oder Aggressionspotenzial.
Vielleicht saßen die besagten FC-Fans zu diesem Zeitpunkt sogar im Speisewagen, um den Punktgewinn in Berlin mit einem leckeren Pilsbier zu krönen („Schlimm, dass die Bahn hier kein Kölsch hat“), aber man war sicherlich nicht stark alkoholisiert. Wahrscheinlich hatte man sich aber genug Mut angetrunken, um AfD-Chef Lucke mal gehörig einen Spruch zu drücken als man ihn entdeckte. Vermutlich blieb es bei diesem einen Spruch, der wahrscheinlich mit „Mach, dass du hier wegkommst“, „hau bloß ab“ oder einer ähnlichen Aufforderung zum Verlassen des Zuges endete. Der feine Herr Professor fühlte sich wahrscheinlich pikiert und ließ die Polizei alarmieren. Es ist allerdings nirgendwo belegt, dass Lucke offen bedroht, körperlich bedrängt oder gar angegriffen wurde. Vermutlich blieb es sogar bei dieser einen Äußerung. Ich selber bin zwar nicht auf der politischen Ebene eines Bernd Lucke aktiv, aber auch als Hobby-Kommunalpolitiker kommt es vor, dass ich an der Supermarktkasse positives oder negatives Feedback zu meiner letzten öffentlichen Äußerung erhalte oder dass Bürger mit Ideen oder Forderungen auf mich zukommen. Ich käme niemals auf die Idee, diesen Leuten zu sagen, ich sei privat unterwegs und man solle mich in Ruhe lassen, sondern meiner Meinung nach muss man als gewählter Volksvertreter auch Rede und Antwort stehen. Natürlich nur in einem gewissen Maße – wenn es unsachlich wird, dann muss man das Gespräch beenden. Deswegen bleibe ich bei meiner Meinung, Lucke hätte entgegnen sollen: „Sie beschimpfen mich und Sie sind unsachlich, deshalb werde ich nicht mit Ihnen diskutieren“, statt zu sagen: „Ich bin privat hier.“ Dies bleibt für mich ein klarer Ausdruck von Luckes Schwäche.
Betrachtet man die Geschichte aus diesem Blickwinkel, dann darf man die offene und direkte Meinungsäußerung der FC-Fans durchaus als couragiert bezeichnen und es gut finden, dass in der Zeitung mal etwas von politisch interessierten Fußballfans zu lesen war, auch wenn die Aktion selber natürlich überzogen und Luckes Einordnung als Nazi falsch war. Man durfte allerdings auch etwas Schadenfreude empfinden und sich über die Boniertheit und die schwache Reaktion Luckes freuen, der bei einer einmaligen verbalen Konfrontation sofort die Polizei verständigen lässt.
Die andere Sichtweise: Randalierende Banden bedrohen Lucke
Man kann das natürlich aber auch anders sehen. Der Artikel von Moritz Körner, den wir am Donnerstag veröffentlicht haben, stellt das andere Extrem des Meinungsspektrums dar. Seine Sichtweise, die von sehr vielen Kommentatoren geteilt wird, ist nicht mehr oder weniger richtig, sondern basiert auf anderen Annahmen, und das kann man niemandem verübeln.
Wenn man sich die katastrophale und überzogene öffentliche Medienberichterstattung zum Thema Gewalt im Fußball anschaut, dann könnte man den Eindruck gewinnen, dass Fußballfans gewaltsuchende, pöbelnde und ständig betrunkene Chaoten sind, die sich ständig auf der Suche nach Randale befinden. Wenn man dies aber ins Verhältnis zu den vielen Hunderttausend Stadionbesuchern pro Woche setzt, dann gibt es wohl wenige Freizeitaktivitäten, die sicherer und gewaltfreier sind als ein Besuch im Fußballstadion. Wenn man allerdings selber nicht regelmäßig ins Stadion geht und seine Informationen aus den Medien bezieht, dann könnte man sicherlich diesen Eindruck gewinnen.
Vermutlich hat man dennoch einige Begegnungen mit Fußballfans gehabt, zum Beispiel in der Regionalbahn, als man gemütlich nach Hause fahren wollte und die Augen verdreht hat, weil plötzlich Massen von lauten, lachenden und gut gelaunten, teilweise alkoholisierten Fußballfans den Zug betraten und die Ruhe dahin war. Wenn man sich nicht sonderlich für Fußball interessiert und man gerade aus der Uni-Mensa statt aus der Eckkneipe kommt, dann wird man sich ganz bestimmt über das Niveau des Trash-Talks, die oft sinnfreien Gesänge und das Auftreten der Fans echauffieren.
Hat man dieses Bild von Fußballfans im Kopf, dann wird man die Causa Lucke selbstverständlich ganz anders bewerten. Im Artikel ist die Rede von „randalierenden Banden“, von „Übergriffen“, von „Gewalt“ und von der Androhung, Lucke wortwörtlich „aus dem Zug zu werfen“. Es wird sogar ein Bezug hergestellt zum Bürgermeister, der Morddrohungen erfährt, weil er Flüchtlinge aufnehmen möchte, was aus meiner persönlichen Sicht definitiv eine andere Kategorie ist. Die Sachlage liefert für all dies allerdings keinerlei Indizien, denn wir wissen nicht, ob es zwei oder drei einzelne Fans waren oder eine „Bande“ von 15 Personen. Wir wissen auch nicht, ob sie randalierend waren, genausowenig ob Gewalt im Spiel war. Ich persönlich glaube dies nicht, denn wie erläutert passt dies nicht zum typischen ICE-Fußballfan, und wäre wirklich Gewaltanwendung im Spiel gewesen, dann hätten die Presseberichte bestimmt ganz anders gelautet. Aber auch meine Sichtweise basiert nicht auf Indizien, sondern ebenso auf persönlichen Erfahrungen und Vorurteilen.
Das Dilemma der Medienberichterstattung
Genau dies ist das Dilemma der Medienberichterstattung. Wenn die Informationslage lückenhaft ist, dann werden diese Lücken frei interpretiert, und das sogar auf drei verschiedenen Ebenen:
Die erste Ebene ist die der Augenzeugen vor Ort, die den gleichen Sachverhalt anders emotional wahrgenommen und verarbeitet haben. Insofern dürften sich schon die Berichte der Augenzeugen voneinander unterscheiden. Auf der zweiten Ebene kommt nun der Journalist, der die Berichte der Augenzeugen aufnimmt, diese bewertet und zu einem Artikel zusammenführt. Auch auf dieser Ebene werden Widersprüche, fehlende Informationen und Unklarheiten mit persönlichen Auffassungen ausgeschmückt. Auf der dritten und letzten Ebene folgen nun die Öffentlichkeit, inklusive aller Kommentatoren. Während der Journalist meist noch versucht, die Gegebenheiten so sachlich wie möglich darzustellen, geht es hier ganz klar um Meinungen und Ansichten. Egal, ob die journalistischen Informationen widersprüchlich waren oder ob das eigene Hintergrundwissen lückenhaft ist, nun werden die Grauzonen mit persönlichen Wertvorstellungen und Vorurteilen ausgeschmückt. Dann kann es passieren, dass zwei Menschen sich im Kern zwar einig sind, aber die Gesamtkonstellation aufgrund unterschiedlicher individueller Prägung anders bewerten.
So war es auch in diesem Fall, denn was beide Positionen eint ist, dass beide für Bürgerrechte und Reisefreheit sind, dass beide Gewalt ablehnen, dass beide Lucke nicht als Nazi ansehen und dass beide anerkennen, dass die Art und Weise der Meinungsäußerung seitens der FC-Fans unsachlich und eine Situation nicht würdig war. Man lag inhaltlich also eigentlich gar nicht so weit auseinander, lediglich die Einordnung in ein größeres Ganzes weicht aufgrund persönlicher Prägung voneinander ab. Und so ist es auch sehr häufig bei politischen Diskussionen. Große Teile der Bevölkerung haben eine andere Informationslage, zum einen weil sie ihre Informationen aus unterschiedlichen Medien beziehen, zum anderen weil das Niveau der Sachkenntnis unterschiedlich ist. Und so führen sie ihre politische Diskussion auf der Grundlage einer Informationsasymmetrie, die einen angemessenen Meinungsaustausch über einen Sachverhalt unmöglich macht. Wenn man politische Diskussionen verfolgt, hat man oft den Eindruck, dass Unkenntnis auf Vorurteil trifft und das Niveau der Debatte sehr niedrig ist. Wenn aber zwei Menschen aufeinander treffen, die eine ähnliche Auffassung über die Sachlage haben, erst dann werden Unterschiede über politische Auffassungen deutlich. Dies sind dann meistens die besten und interessantesten Debatten – und Sternstunden der Demokratie.
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