Elias Geschichte
Elias schüttelt sich vor Lachen. Er weiß, dass Frau Schmidt bereits zu ihm herüber guckt, aber das Handyvideo ist einfach zu gut. „Elias, sei bitte leise!“, hört er schon ihre Stimme. Er muss weiter lachen, so sehr er sich auch bemüht. Auch nach einer zweiten Ermahnung kann er nicht aufhören. Beim dritten Mal fragt Frau Schmidt: “Elias, du kennst die Regeln. Möchtest du aufhören oder möchtest du in den Trainingsraum?“ Elias möchte gerne aufhören, er hat keine Lust auf den Trainingsraum, aber wie Frau Schmidt da vor ihm steht, dass sieht einfach aus wie das Lama in dem Video. Als Hannes neben ihm dann auch noch so ein Geräusch macht, muss er wieder loslachen. „Ok Elias, du hast dich entschieden. Jetzt musst du in den Trainingsraum.“ Während Elias seine Sachen zusammenpackt, füllt Frau Schmidt den Laufzettel aus:
Name, Alter, Klasse und Zeitpunkt des Störens werden genau vermerkt. Als Art des Störens wird „Lachen im Unterricht“ eingetragen.
Mit dem Zettel wandert Elias einmal quer durch das Schulgebäude bis zum Trainingsraum. Dort sitzt Frau Grebe. Frau Grebe ist keine Lehrerin, sondern Mutter. Zufällig die von Hannes. Elias gibt seinen Laufzettel ab und Frau Grebe trägt ein, wann Elias den Trainingsraum betreten hat. Dann erhält Elias ein neues Formular und mit diesem setzt er sich an einen der freien Tische. Außer ihm sind noch zwei Jungs und ein Mädchen im Trainingsraum. Elias trägt seinen Namen, die Klasse und sein Alter ein. Dann die Art der Störung: „Habe im Unterricht gelacht“. Es folgt ein großes Feld mit der Überschrift: „Reflektion über die Störung“. Elias stöhnt. Er füllt zuerst das letzte Feld aus. Dort steht: „Mein Lösungsansatz“. Elias trägt ein: „Ich werde nicht mehr im Unterricht lachen“. Gelangweilt und mit krakeliger Handschrift denkt sich Elias etwas für die Reflektion aus. Er beschreibt, was passiert ist und, dass es ihm sehr Leid tut, dass er gelacht hat. Ungefähr das, was er jedes Mal schreibt. Dann geht er wieder zu Frau Grebe. Sie überfliegt das Blatt, lässt ihn Rechtschreibfehler korrigieren und trägt dann auf dem Laufzettel ein, dass Elias erfolgreich über seine Störung reflektiert und einen Lösungsansatz entwickelt hat. Schließlich macht sie noch eine Kopie von beiden Blättern und heftet diese ab. Elias nimmt das Original wieder mit zu Frau Schmidt.
Reflektion
Was sich liest, wie ein feuchter Traum eines Bürokraten, ist an vielen Schulen mittlerweile angekommen und gehört zur pädagogischen Praxis. Dieses Konzept nennt sich Trainingsraum und ist bei vielen Lehrern und Schulleitern sehr beliebt. Auch bei Schülern, die sich durch Mitschüler gestört fühlen, stößt das Konzept auf Zustimmung. Dies alles wird durch Studien belegt. Was jedoch noch nicht gezeigt werden konnte, ist der Lerneffekt für die Kinder, welche in den Trainingsraum geschickt werden.
Aber natürlich, die Vorteile liegen auf der Hand. Da es weder rechtlich erlaubt ist, Störer einfach vor die Tür zu setzen oder gar Strafarbeiten aufzugeben, greifen viele Lehrer wohl gerne nach diesem Trick. In der Klasse kann man so schnell Ruhe herstellen und den Unterricht weiterführen. Die ruhigen, braven Schüler bekommen weiter ihren Unterricht und die Störer können im Trainingsraum über ihr Verhalten reflektieren und so ihr Verhalten ändern. Es ist ja auch nicht willkürlich, da alles genau dokumentiert und in Formulare eingetragen wird. Und wenn etwas in Formulare eingetragen und sogar kopiert und abgeheftet wird, kann es ja gar nicht schlimm sein. Dafür sieht es zu sehr nach Bürokratie aus und die haben wir Deutschen ja so gerne.
Damit wird sich das Konzept jedenfalls schöngeredet. Mal ganz davon abgesehen, dass hier schon Fünftklässlern mit den Mühlen der Bürokratie indoktriniert werden, geht der Effekt für die Störer gegen Null. Wie im Beispiel, reflektieren die Kinder nicht, sondern tragen einfach ein, was von ihnen erwartet wird. Warum sollten sie auch nicht? Schließlich sind Kinder, auch Störer, nicht dumm. Hinzu kommt, dass im Trainingsraum in der Regel kein pädagogisches Fachpersonal sitzt, das in der Lage wäre, fachgerecht mit den Kindern ihr Störverhalten aufzuarbeiten. Die Kinder werden im Trainingsraum sich selbst überlassen, getarnt durch Formalisierung.
Das Konzept des Trainingsraums sieht außerdem vor, dass die Kinder selbst entscheiden können, ob sie in den Trainingsraum möchten. Dies erfolgt durch die Fragen des Lehrers und wird von den Befürwortern des Konzepts sehr gerne hervorgehoben. Betrachtet man es einmal genau (im Beispiel wurden die Fragen so dargestellt, wie es das Konzept vorsieht), hat das Kind keine Wahl. Es bleibt nichts anderes übrig als in den Trainingsraum zu gehen.
Zum Schluss noch das größte Paradoxon: Die Idee ist, durch das Konzept einen qualitativen Unterricht für die Nicht-Störer zu gewährleisten. Wer denen schadet, muss in den Trainingsraum. Einziger Fehler dabei: Wenn der Lehrer dem guten Unterricht im Wege steht , dürfen die Schüler ihn nicht in den Trainingsraum schicken.
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