Rückkehr zum Kampf der Kulturen?

In einer Welt, die es nach dem Ende des kalten Krieges neu zu verstehen galt, veröffentlichte der Harvard Professor Samuel P. Huntington, aufbauend auf einem Artikel von 1993, im Jahr 1996, sein wohl einflussreichstes Buch: „Clash of civilizations and the remaking of a world order“. Dieses wurde mit „Kampf der Kulturen“ in das Deutsche übersetzt, obwohl es wörtlich eher Aufprall oder Aufeinanderprallen der Kulturen heißen müsste.

Es ist vor allem aktuell eine sehr interessante Lektüre. Da die aus westlicher Sicht dominanten Konflikte unserer Zeit werden essentiell zwischen drei von Huntington beschriebenen Zivilisationen in einem „alle-gegen-alle“ Modus ausgefochten. Russland gegen den Westen. Der Westen gegen den islamischen Fundamentalismus. Der islamische Fundamentalismus gegen Russland.

Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen war wohl vor allem deshalb so einflussreich, weil es den Menschen im Westen geholfen hat, sich ein Bild zu machen von einer Welt ohne den kalten Krieg. Denn tatsächlich ist die Welt nach dem Zusammenbruch des riesigen Sowjetreiches deutlich komplexer geworden. Sicherlich war der kalte Krieg nicht weniger facettenreich als andere Epochen. Dennoch hatte in dieser Zeit fast jeder Mensch auf der Erde eine, wenn auch wage Vorstellung von der herrschenden Weltordnung. Es gab den Westen, den Osten und die Dritte Welt. Letztere war dabei genau so bedeutend im Sinne der Weltordnung, wie sie es heute ist. Diese bipolare Struktur war sehr einfach, denn jeder gehörte entsprechend einer der beiden großen Ideologien entweder zu der einen oder zu der anderen. Man war Bürger der freien Welt oder Kommunist.

Als diese Weltordnung kollabierte, bot sich Huntingtons Werk als neues Schema zur Betrachtung der Welt an. Statt aus zwei Blöcken, die sich feindlich gegenüber stünden, würde die Welt nun aus Zivilisationen bestehen, die auf Sprache, Kultur und Religion basierten. Diesem Ansatz zur Folge würde die Herrschaftsordnung unserer Welt durch fünf große zivilisatorische Blöcke bestimmt. Die westliche Zivilisation, die orthodoxe Zivilisation (Russland und viele ehemalige Ostblockstaaten), die lateinamerikanische Zivilisation, die muslimische Zivilisation und die vier fernöstlichen Zivilisationen, der Chinesen, Japaner, Hindus und Buddhisten. Konflikte entstünden insofern nicht mehr aufgrund von ideologischen Differenzen, sondern aufgrund von zivilisatorischen Unterschieden. Wie durch die Plattentektonik der Erdkruste Erdbeben und Vulkanausbrüche dort geschehen, wo die kontinentalen Platten aneinander reiben, so entstehen Konflikte zwischen Menschen dort, wo die verschiedenen Zivilisationen auf einandertreffen.

Dieses Modell hat seit seiner Entstehung massive und lautstarke Kritik ausgelöst und in der akademischen Welt gilt es vielen als weitgehend überholt, da es die Komplexität der Welt zu stark vereinfachen würde, Konflikten innerhalb von zivilisatorischen Einheiten zu wenig Bedeutung beimessen würde oder, weil es sogar im Kern rassistische Züge trage.

Dennoch erlebt diese Sicht der Welt aktuell wieder eine kleine Renaissance. In den deutschen Medien hörte man von Kommentatoren nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo häufig das Huntington-Zitat, der Islam sei an seinen Rändern blutig. In der Tat hatte auch Huntington von einem Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt gesprochen, der durch ein großes Bevölkerungswachstum und einer Re-Islamisierung der muslimischen Welt ausgelöst würde. Aber vor allem seine Bemerkungen zur Ukraine im allerersten Kapitel wirken, wenn man sie heute liest, wie eine dunkle Prophezeiung. Denn er zählt die Ukraine zu den Ländern, durch die eben eine dieser zivilisatorischen Bruchstellen verläuft, an der es zu Verwerfungen zwischen dem Westen und der orthodoxen Zivilisation kommen wird. Huntington beschreibt sogar die Möglichkeit, dass sich die Ukraine in einen westlichen und einen russischen Teil aufspalten wird. Selbst seinen härtesten Kritikern wird es schwer fallen, diese Krise nicht wenigstens als teilweise Bestätigung seiner Theorien zu begreifen. Ebenso lassen sich die andauernden Konflikte rund um den arabischen Frühling leicht im Sinne konkurrierender Kulturen interpretieren. Auch auf diesem Feld sind Huntingtons Vorrausagen nicht weit entfernt von der tatsächlichen aktuellen Situation. Und selbst die neue Rolle der Türkei, als starke Führungsnation innerhalb der islamischen Gemeinschaft, hat Huntington in einer Zeit, als dies noch ganz anders wirkte, korrekt vorausgesagt.

Ist die auf dem Kampf der Kulturen aufgebaute Sicht der Welt also die einzig richtige? Werden alle Vorrausagen Huntingtons genau so eintreffen? Kann man alle alternativen Erklärungen vernachlässigen? Sollte die akademischen Welt alle Fortschritte der letzten 20 Jahre auf diesem Gebiet über den Haufen schmeißen? Und sind somit Fragen nach dem Völkerrecht oder der Rolle der russischen Führung unberechtigt, weil es im Kern nur um einen Kampf der Kulturen geht?

Nein! Ganz klar, nein! Aber das muss ein solches Modell auch nicht leisten, um hilfreich zu sein. Natürlich ist Huntingtons Modell nicht ansatzweise perfekt oder als Patentrezept für jeden Konflikt dieser Welt anwendbar, doch als grobe Schablone, die dazu dient, sich eine sehr komplexe Welt und die in ihr wirkenden Kräfte vorzustellen, habe ich für mich noch kein besseres entdeckt.

 


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Kommentare

Eine Antwort zu „Rückkehr zum Kampf der Kulturen?“

  1. Avatar von Alrik
    Alrik

    Ja, der Kampf der Kulturen wird wieder gerne zitiert.
    Lange wurde er demonstrativ abgelehnt, vor allem von denen die das Buch nicht gelesen haben.
    Der ursprüngliche Artikel war eine Antwort auf Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ nach dem sich der westliche Liberalismus nach dem Ende des real-existierenden Sozialismus weltweit durchsetzen wird.

    Fukuyamas These hatte die Haltung nach dem Ende des kalten Krieges gut getroffen. Vermutlich sind damals die meisten Menschen in Westeuropa, USA und Kanada sind der Meinung gewesen das nach und nach die Länder des Ostblocks (inklusive Russlands) das westliche Zivilisationsmodell übernehmen werden.
    In Osteuropa ist das auch durchaus passiert, in Rußland eher nicht.
    Und auch der arabische Frühling hat keineswegs das westliche Zivilisationsmodell in Syrien und in Libyen an die Macht gebracht.

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