Schlafwandler

Sind die Schlafwandler wieder unterwegs?

Als sich der Ausbruch der Ersten Weltkriegs 2014 zum hundertsten Mal jährte erschien eine Reihe von Büchern, die sich diesem Thema widmeten. Das meistbeachtete dieser Bücher war wohl zweifelsohne das Buch Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog des australischen Historikers Christopher Clark, der hervorragend Deutsch spricht und somit auch häufig in Fernsehbeiträgen und Diskussionsrunden zu sehen war. Das Buch verkaufte sich, angesichts des stolzen Preises und angesichts der Tatsache, dass es sich um ein geschichtswissenschaftliches Werk handelte, erstaunlich gut und führte zeitweise die Bestsellerlisten an.

Die europäischen Großmächte haben, so die These Clarks, mit einem Krieg in diesem Ausmaß nicht gerechnet und diesen auch nicht gewollt. Quasi schlafwandlerisch, deshalb auch der Titel Die Schlafwandler, zogen die herrschenden Eliten ihrer Zeit in einen Weltkrieg, der alles bis dato Erlebte bei Weitem überstieg.

Das Werk umfasst mehr als 700 Seiten und gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil wird sehr anschaulich, schon fast in prosaischer Form, erläutert, wie die Gründung des serbischen Königreichs erfolgte und welche Volksmythen ihm zu Grunde lagen. Dabei werden der Zeitgeist und das Selbstverständnis der Serben zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die Ursachen für das Verlangen nach territorialer Expansion aufgezeichnet. Der Leser erfährt, wie die Machstrukturen ausgestaltet waren und inwieweit es Verbindungen zwischen der serbischen Staatsführung und den Attentätern im Untergrund gab.

Im zweiten Teil von Die Schlafwandler geht es dann ans Eingemachte: Äußerst dezidiert wird beschrieben, wie zur damaligen Zeit die internationalen Konstellationen auf dem europäischen Kontinent waren. Dies beschränkt sich nicht nur auf die Historie und die jeweiligen Beweggründe der gegenseitigen Bündnisverträge, sondern für jeden einzelnen Staat wird zudem detailliert analysiert, wie die Machtstrukturen waren. Hatte der Monarch im jeweiligen Land die letztendliche Entscheidungsbefugnis oder war er vielmehr ein Spielball der mächtigen Politik? Saß der jeweilige Regierungschef fest im Sattel und konnte die Leitlinien der Politik gestalten oder war er abhängig von Unterstützern und Gegnern innerhalb eines Kabinetts? Zeichnete der Außenminister auch für die Außenpolitik verantwortlich oder war er eine Marionette des Regierungschefs oder sogar einer Clique von mächtigen Mitarbeitern im Ministerium? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielten die Presse und die öffentliche Meinung und inwieweit setzte dies die Entscheidungsträger unter Druck?

Nimmt man all diese Fragen zu den inländischen Entscheidsstrukturen und kombiniert sie mit den Fragestellungen im Bereich der internationalen Bündnispolitik mit all ihren Facetten (wie z.B. koloniale Fragen sowie in der Historie gelagerte Gründe für gegenseitiges Ver- oder Misstrauen), so wird relativ schnell klar, wie komplex und vielschichtig die Entscheidungsprozesse waren und dass häufig unklar war, ob ein vermeintlicher Verhandlungspartner überhaupt für sein Land spricht oder ob er vielmehr seine isolierte Einzelmeinung vertrat. Schon an dieser Stelle wird dem Leser deutlich, warum viele politische Entscheidungsträger wie Schlafwandler in eine gewisse Richtung liefen ohne sich der übergeordneten Konsequenzen bewusst zu sein.

Im dritten und abschließenden Teil von Die Schlafwandler werden schließlich die Ereignisse der Julikrise, beginnend mit dem Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo und abschließend mit den Kriegserklärungen, chronologisch und in sehr großer Detailfülle beschrieben. Da viele politische Entscheidungen während der Julikrise in sehr kurzer Zeit, hinter verschlossenen Türen, ohne Dokumentation und in großer Eile getroffen wurden, bleibt oft Raum für Spekulation und Interpretation. Clark stellt die verschiedenen Theorien dar und begründet seine eigene Sichtweise der Dinge. Im Ergebnis widerlegt er die lange vorherrschende These, dass Deutschland als Aggressor auftrat und alleiniger Schuldiger am Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist. Vielmehr verweist er darauf, dass man eine Schuld bei so vielen Beteiligten und solch verworrenen Strukturen niemandem fest zuordnen kann, sondern dass alle Akteure wie Schlafwandler unwissend in etwas hineingeraten sind, das sie nie für möglich gehalten hätten.

Der hundertste Jahrestag des Kriegsausbruchs sowie die Veröffentlichung von Die Schlafwandler haben in Deutschland auch eine große öffentliche Diskussion hervorgerufen. Es wurde thematisiert, ob die Lehren aus der damaligen Zeit auch noch heute gültig sind und ob die politischen Machthaber heute, genau wie vor 100 Jahren, vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts erneut wie Schlafwandler in einen globalen Krieg rennen.

Diese These muss man entschieden von der Hand weisen. Zunächst einmal gilt der Grundsatz, dass sich Geschichte nie exakt wiederholt, weil die Ausgangskonstellationen immer anders sind. Darüber hinaus lässt die These außen vor, dass die Lage vor 100 Jahren mit der heutigen Lage absolut nicht vergleichbar ist. Man denke allein an die Mittel der modernen Kommunikation, die heute zur Verfügung stehen und einen viel aktiveren Dialog ermöglichen. Vor allem aber muss man anerkennen, dass es damals keine internationalen Organisationen gab, die einen entsprechenden zwischenstaatlichen Konflikt hätten lösen können.

Wenn es allerdings eine Lehre gibt, die damals wie auch heute gilt, dann die, dass Außenpolitik interessengeleitet ist. Wer glaubt, dass Außenpolitiker das tun, was am besten für die Menschheit ist, so wünschenswert dies auch wäre, der irrt gewaltig, denn auf der außenpolitischen Bühne vertreten Staaten ihre ureigensten Interessen.

Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Österreich-Ungarn ein Interesse daran, dass sich seine damalige Region Bosnien-Herzogowina friedlich entwickelt. Das serbische Anliegen, genau dort Unruhe zu stiften, um einem eventuellen Zerfall des Vielvölkerstaats Österreich-Ungarn Vorschub zu leisten und ein Großserbien unter Einbeziehung Bosnien-Herzegowinas entstehen zu lassen, war der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie natürlich ein Dorn im Auge. Nachdem festgestellt wurde, dass das Attentat von Sarajewo auf serbischem Boden geplant wurde, forderte Österreich-Ungarn in seinem Ultimatum an Serbien vor allem, bei der Arbeit der serbischen Ermittlungsbehörden eingebunden zu werden, um die Vorkommnisse lückenlos aufzuklären.

Allein schon dieses Anliegen wurde von Russland, bestärkt durch seinen Bündnispartner Frankreich, als anmaßend erklärt, weil es die serbische Souveränität verletze. Es wurde zum Anlass genommen, eine Mobilmachung zu befehlen und damit die Grundlage für den Kriegsausbruch zu legen. Russland wurde somit von seinen eigenen Interessen geleitet und hat nicht darüber nachgedacht, welche berechtigten Interessen Österreich-Ungarn hatte und inwiefern man ihnen entgegenkommen könnte.

Dieser Grundsatz, die Interessen des anderen zu berücksichtigen, muss auch noch heute gelten. Auch durch die Lektüre von Die Schlafwandler wird noch einmal deutlich, wie wichtig die Dominanz über das Schwarze Meer und die Passierbarkeit der türkischen Meerengen seit jeher für Russland waren. Russland dürfte sich selbst in den letzten Jahren zunehmend in Bedrängnis sehen. Der Zerfall des Warschauer Pakts und die Aufnahme einiger ehemaliger Staaten des Warschauer Pakts in die NATO haben das Land zunehmend isoliert. Wenn man bedenkt, dass die Übertragung der Krim auf die Ukraine zu Sowjetzeiten als rein innenpolitisches Instrument gesehen wurde und das Russland die Krim als Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte seit jeher ganz klar als integralen Bestandteil seiner sicherheitspolitischen Interessen sieht, so ist für jedermann verständlich, dass eine Ukraine (inklusive der Krim), die eine EU- und NATO-Mitgliedschaft anstrebt, unter keinen Umständen akzeptabel ist.

Dies soll mitnichten heißen, dass das Verhalten Russlands gerechtfertigt ist. Ganz im Gegenteil: Russland hat mehrfach das Völkerrecht gebrochen und eine Tolerierung dessen oder gar eine Politik des Appeasement sind strengstens von der Hand zu weisen. Allerdings sollte man bei allen Verhandlungen und bei allen Sanktionen stets bedenken, dass Russland eigene Interessen hat und diese durchzusetzen versucht. Putin ist nämlich nicht verrückt und unberechenbar, sondern handelt durchaus rational. Eine knallharte Friss-oder-Stirb-Politik gegenüber Russland wird also keinen Erfolg haben. Stattdessen muss eine Lösung gefunden werden, die es Putin erlaubt, seine sicherheitspolitischen Interessen zu wahren.

Merkel und Hollande scheinen dies im Rahmen der Minsk II Verhandlungen erfolgreich betrieben zu haben. Man hat offensichtlich einen Kompromiss gefunden aus dem beide Seiten gesichtswahrend herausgehen können. Dieser Kompromiss ist zwar brüchig, er gilt aber nach wie vor, und das erste Mal seit langem stehen die Zeichen auf Entspannung. Beide Seiten scheinen erkannt zu haben, dass eine Lösung nur dann möglich ist, wenn alle ein Mindestmaß an Sicherheitsinteressen wahren können.

Diese Erfahrung hatten die handelnden Akteure vor 100 Jahren nicht. Sie hatten die Erinnerung an kurze Kriege. Sie hatten unterschätzt, wie weit der technische Fortschritt seinerzeit schon war und wie viele Menschenleben der Krieg folglich kosten würde. Deshalb rannten sie wie Schlafwandler in eine Katastrophe.

Wenn Geschichte sich auch nicht wiederholt, so kann man dennoch aus ihr lernen. Die heutige Generation der Politiker weiß, welche schrecklichen Auswirkungen ein Krieg dieser Größenordnung hätte und wissen dies zu verhindern. Ein Grund mehr, warum sich das in Die Schlafwandler beschriebene Szenario in der heutigen Zeit wohl nicht mehr wiederholen wird.


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