„Vox Populi, Vox Dei“! oder doch eher „Vox populi, Vox Rindvieh“?

In schöner Regelmäßigkeit stellen sich so manche Mitbürger nach Wahlen oder Referenden die Frage, ob die breite Masse der Wähler zu faul ist, um sich vernünftig zu informieren, zu blöd, um die Konsequenzen ihrer Wahlentscheidung zu begreifen, oder ob doch eher beides zutrifft.

Diese Kritik am Wähler wird natürlich von den meisten nur dann geäußert, wenn die eigene Position in der Abstimmung unterlag. Dass es aber umgekehrt problemlos akzeptiert wird, wenn dieselbe Ignoranz, die eben noch kritisiert wurde, beim nächsten Mal von den Wählern zur Schau gestellt wird, die dem gewünschten Kandidaten zum Sieg verhelfen – geschenkt.

Dieses allzu menschliche Phänomen sollte aber nicht daran hindern, sich generell mit der Frage der Qualität demokratischer Mehrheitsentscheidungen zu befassen.

Aus ökonomischer Perspektive gibt es schon seit Ende der 50er das Konzept der rationalen Ignoranz. Wer die Prinzipien der modernen Massendemokratie nüchtern betrachtet und nicht der ‚jede Stimme zählt‘- Romantik erliegt, weiß natürlich, dass eine einzelne Stimme einen verschwindend geringen Einfluss auf das Wahlergebnis hat. Auch wenn die meisten Bürger das Konzept nicht in Form eines demokratietheoretischen Essays ausformulieren könnten, sind sie sich über diese Tatsache zumindest unbewusst im Klaren. Wenn man dann noch hinzu nimmt, dass es einen nicht unerheblichen Aufwand darstellt, sich mit den hochkomplexen Sachfragen, über die in Parlamenten routinemäßig entschieden werden muss, soweit auseinander zu setzen, dass man ein qualifiziertes Urteil abgeben könnte, ist es nur zu verständlich, dass die allermeisten Mitmenschen nur eine vage Vorstellung von den bei Wahlen oder Referenden zur Abstimmung stehenden Themenkomplexen haben – wenn es nicht gerade nur um die Umgehungsstraße vor Ort geht. Und das ist auch völlig legitim und akzeptabel – eben weil die meisten Mitbürger neben Arbeit und privaten Verpflichtungen nicht auch noch die Zeit haben, sich ständig in komplexe Sachfragen einzuarbeiten, haben wir die repräsentative Demokratie, in der Abgeordnete sich stellvertretend für die Masse der Bürger mit diesen Fragen auseinandersetzen.

Zurück zur rationalen Ignoranz – das Konzept besagt, dass aus den oben genannten Gründen die meisten Menschen in einer Demokratie aus rationalen Überlegungen heraus ignorant bezüglich der meisten zur Abstimmung stehenden Fragen sind. Wenn man nun davon ausgehen kann, dass ihre Wahlentscheidung vereinfacht formuliert nach dem Zufallsprinzip erfolgt, ist die rationale Ignoranz kein Hindernis für sachlich korrekte Entscheidungen in einem demokratischen System. Weshalb? Weil sich die breite Masse in ihren Wahlentscheidungen zumindest theoretisch gegenseitig aufhebt, so dass die kleine Minderheit, die tatsächlich durch ihre Fachkompetenz qualifiziert ist, eine Entscheidung über die jeweilige Frage zu treffen, als Zünglein an der Waage dient, und die Wahlentscheidung in die korrekte Bahn lenkt. Natürlich ist das Konzept nur sehr vereinfacht dargestellt, und es gibt entsprechende Modelle, wie sich die rationale Ignoranz auswirkt, wenn nicht nur über ein Thema abgestimmt wird, sondern über ein ganzes Paket, etwa in Form der Wahlprogramme von Parteien.

Die unausgesprochene Grundlage dafür, dass sich die Entscheidungen der breiten Masse, die der rationalen Ignoranz entspringen, und eine Politik zum Wohle der Allgemeinheit nicht widersprechen, ist natürlich, dass die Wahlentscheidung bei Fehlen ausreichender Sachkenntnis tatsächlich dem Zufall unterliegt.

Dem widerspricht bedauerlicherweise die Empirie ebenso wie die persönliche Lebenserfahrung. So ist es in mehreren großangelegten sozioökonomischen Studien (wie etwa in der SAEE – Survey of Americans and Economists on the Economy) nachgewiesen worden, dass es einen statistisch signifikanten Unterschied in den Präferenzen des Durchschnittswählers und akademisch gebildeten Ökonomen gibt, die auch nicht etwa auf Unterschiede in Alter, Einkommen, Geschlecht etc. zurückzuführen wären. So sehen beispielsweise deutlich mehr Wähler als Ökonomen den Freihandel als Bedrohung für nationalen Wohlstand, unterschätzen die Wirksamkeit des freien Markts hinsichtlich der Wohlstandsgenerierung, lehnen den Import ausländischer Arbeitskräfte zur Besetzung offener Stellen ab, und unterschätzen die Vorteile von Optimierung, Automatisierung und Rationalisierung der Produktion für die Gesamtwirtschaft und Gesamtgesellschaft.

Diese Diskrepanz zwischen ausgebildeten Fachexperten und der wahlberechtigten Durchschnittsbevölkerung ist auch nicht nur auf das Gebiet der Ökonomie beschränkt. So dürfte es kaum jemanden verwundern, dass die in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitete hysterische Phobie vor allem, was mit dem Label Gentechnik versehen ist, nur von den wenigsten ausgebildeten Biologen und Genetikern geteilt wird.

Woher kommen nun diese Diskrepanzen? Dem Modell der rationalen Irrationalität zufolge ist die Ursache die gleiche wie bei der rationalen Ignoranz: Die – unbewusste – Erkenntnis, dass die eigene Stimme für sich genommen kein besonderes Gewicht hat. Daraus folgert, dass es beispielsweise für den Einzelnen im Sinne der Psychohygiene günstiger sein kann, für eine Partei mit einer Wahlplattform des umfassenden Ausbaus des Sozialstaats oder Naturschutzes zu stimmen, als selber jedem Bettler in der Innenstadt einen Geldschein in die Hand zu drücken oder auf die Fernreise nach Kambodscha zu verzichten, damit man sich selbst als guter Mensch fühlen kann. Neben diesem Mechanismus des mentalen Ablasshandels gibt es natürlich auch die Möglichkeit, die eigenen Vorurteile, Ressentiments und sonstigen rational nicht haltbaren Überzeugungen mit einem Kreuz am Wahltag zu pflegen. Die wenigsten Hohlerde-Verschwörungstheoretiker wären vermutlich bereit, sich in einen isländischen Vulkan werfen zu lassen, nur weil sie felsenfest überzeugt sind, dass es sich dabei um eine Passage ins Innere der Erde handelt. Aber wie viele Wähler lassen sich von ökonomischem Unsinn wie der Mietpreisbremse oder der prinzipiellen Ablehnung von Freihandelsabkommen begeistern? Nicht nur, dass sich so die eigenen liebgewonnenen Vorurteile billig pflegen lassen, wenn sich wider Erwarten doch eine Mehrheit für die sachlich falsche Option ergibt, dann muss man selber wenigstens nicht alle entstehenden Kosten und Risiken tragen, sondern hat die Konsequenzen auf die gesamte Gesellschaft verteilt.

Welche Konsequenzen muss man nun aus dem oben skizzierten Hintergründen für die zu beobachtende Irrationalität der Wahlbevölkerung ziehen? Einfache Lösungen kann auch ich nicht anbieten, ich erlaube mir aber die Bemerkung, dass es grundsätzlich davon abhängt, was man höher gewichtet – die demokratische Partizipation oder eine Politik im Interesse des Allgemeinwohls.

In ersterem Fall bleibt nicht viel anderes übrig, als die Zähne zusammen zu beißen und zu versuchen, die irrationalsten Impulse der Bevölkerung durch das System der parlamentarischen Demokratie zu filtern und abzuschwächen, um den Schaden für die Allgemeinheit möglichst gering zu halten – in der Konsequenz bestärkt das natürlich das populistische Bonmot von ‚Denen da oben, die machen, was sie wollen‘. Zwar hätte man auf Kosten der Effizienz des Staatswesens und der Prosperität der Allgemeinheit die breite Masse der Bevölkerung weiterhin formal beteiligt, muss aber ständig zwischen Demokratieverdruss auf der einen und populistischer Politik, die objektiv betrachtet der Bevölkerung schadet, lavieren.

Sieht man hingegen das Allgemeinwohl als wichtiger an, dann gibt es mehrere Optionen. Angefangen bei Selbstbeschränkungen von Legislative und Exekutive durch Systeme wie unveränderliche Grundrechte, Schuldenbremsen, Gesetzen mit automatischem Auslaufdatum oder der verpflichtenden Prüfung auf die Wirksamkeit von beschlossenen Gesetzesinitiativen nach Ablauf bestimmter Fristen. Eine weitere Maßnahme wäre die Beendigung jeglicher Initiativen, Nichtwähler wieder am demokratischen Prozess zu beteiligen. Diejenigen, die wählen gehen, sind signifikant gebildeter und rationaler als die breite Masse der Nichtwähler, die, wenn sie sich zur Wahlurne aufmachen, in der Regel eine Proteststimme aus dem Affekt heraus für Parteien abgeben, die billigen Populismus und Ressentiments statt rationaler Problemlösungsvorschläge anbieten. Dementsprechend ist es für das Allgemeinwohl kontraproduktiv, Ressourcen zur Wählermobilisierung von Mitbürgern auszugeben, die mental mit der Komplexität unserer Welt überfordert sind und sich deshalb schon aus dem demokratischen Prozess zurückgezogen hatten.

Und die effektivste aber zugleich auch radikalste Option wäre, sich von der Illusion der Gleichwertigkeit jeder Stimme zu verabschieden und daraus auch die Konsequenz zu ziehen, Stimmen unterschiedlich zu gewichten. Ob man das Stimmgewicht an das Steueraufkommen koppelt, nach dem durchaus legitimen Gedanken, dass diejenigen, die am meisten zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen auch das größte Stimmgewicht bei Abstimmungen haben sollten, in denen es um die Verwendung der Finanzmittel geht, ob man das Stimmgewicht an den Bildungsgrad koppelt, oder eine Kombination beider oder anderer Faktoren verwendet, ist dann eine Entscheidung, die im Rahmen eines demokratisch legitimierten Prozesses getroffen werden müsste. Es wäre in jedem Fall eine Neuausrichtung weg vom Egalitarismus und hin zur Meritokratie und vielleicht nicht die schlechteste Entwicklung für die Demokratie in der Postmoderne.


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