Die Heftigkeit der Reaktionen auf die sexuellen Übergriffe durch Asylbewerber in Köln sind nicht monokausal zu betrachten. Man muss die Entwicklung des politischen Klimas des vergangenen Jahres verfolgen, um zu verstehen, wie schlagartig Positionen salonfähig werden können, für die man zuvor vermutlich entlassen, exmatrikuliert oder zumindest öffentlich geächtet worden wäre.
Die durchaus streitbaren und bewusst polemisch geschriebenen Beiträge der diesem Artikel zugehörigen Kolumne “Moralokratie” haben alle einen gemeinsamen Nenner und eine gemeinsame Feststellung: eine moralisch oder ideologisch begründete Beschränkung der Diskussionskultur. Diese Beschränkung führt früher oder später zu Apathie und Resignation oder zu einem unkontrollierten Aufbegehren. Jenes Aufbegehren erleben wir in rechtstaatlicher negativer Ausprägung in Polen. Der neue polnische Außenminister Witold Waszczykowski erklärt gegenüber der BILD:
„Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun.“
In der radikalen Botschaft verbirgt sich ein wahrer Kern. Das Gefühl der Übersättigung durch übergestülpte Moral hat sich in Europa breit gemacht – der Auslöser: die Angst von Politik und Medien vor dem eigenen Volk. Der hehre Gedanke des „friedlichen Zusammenlebens“ hat einen Automatismus freigesetzt, der Kritik am vermittelten Mainstream nicht widerlegt, sondern ächtet. So wurde die Vorläuferfraktion von den „besorgten Bürgern“, nämlich den „man wird doch wohl noch sagen dürfen“, nicht zur Diskussion geladen, sondern verspottet und diskreditiert. So etwas bleibt in den Köpfen hängen, auch bei denen, die sich bei vielen komplizierten Themen zuvor noch dezidiert eine Meinung gebildet haben: Flüchtlingspolitik, Euro, Bankenkrise oder Griechenland. Wer allerdings vom vorgegebenen politischen Konsens abweicht, so lernt die Generation Y, verlebt seine Existenz fortan am rechten Rand der Gesellschaft – und das möchte ja niemand. Selbstverständlich hätte man das aufkeimende Unbehagen auffangen können, durch eine ausgewogene Berichterstattung, durch Diskurs statt Dämonisierung, durch Argument statt Diffamierung, doch man hat sich anders entschieden. „Die rationalisierende Wirkung von Diskursen beruht darauf, dass Begründungen für Argumente vorgetragen werden, die individuelle Erfahrung und Betroffenheit transzendieren und auf Generalisierung zielen“ (Schaal & Heidenreich 2013, S. 7). Eben dieses Verständnis ist in den vergangen Jahren abhandengekommen, das Sachargument kommt auf die rote Liste der bedrohten Spielregeln der Demokratie. Anstelle von Fakten rücken Vermutungen, anstelle von Argumenten rückt der Anspruch moralischer und politischer Korrektheit – also das politische Gut der Moral, deren Besitzanspruch linke und grüne Ideologen endgültig für sich erheben.
Mit den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof ist der gordische Knoten der Zurückhaltung durchschlagen. Nicht nur in den sozialen Medien, auch im Freundeskreis, am Arbeitsplatz oder auf die Straße wird plötzlich unverblümt über die eigene Meinung gesprochen. Nie war das Misstrauen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk so groß wie heute. Die Meinungsbildung verläuft nun immer häufiger an den journalistischen Gate-Keepern vorbei. Zurecht? Das ist die Frage. Ins Chaos gestürzt haben Deutschland nicht die Flüchtlinge oder der Euro, sondern diejenigen, die mit Denkverboten die politische Debatte vergiftet haben. Jetzt rächt sich rechte und konservative Ernte einer übervorsichtigen und politisch korrekten Saat.
Aus Ohnmacht wird dumpfe Wut. Es wird abzuwarten bleiben, wie die etablierte Politik mit dem aufkeimenden Extremismus in der Mitte der Gesellschaft umgehen wird. Was die politische Kultur in Deutschland heute braucht, ist Transparenz und Ehrlichkeit. Wer wieder auf Abschreckung durch Dämonisierung setzt, wird sich im Parlament neben Parteien wiederfinden, die wir sicher nicht als Banknachbarn haben wollen.
Schaal, G. S. & Heidenreich, F. (2013): APuZ 63. Jahrgang 32–33/2013, S. 8 – 9
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