Handball: Ein neues Wintermärchen

Genau neun Jahre ist es her, dass die deutsche Nationalmannschaft im eigenen Land Handball-Weltmeister wurde und der Sportart damit einen regelrechten Popularitätsschub verpasste. Fixe Journalisten setzten der Erfolgsgeschichte den Stempel „Wintermärchen“ auf, in Anlehnung an die Fußball-Heim-WM ein halbes Jahr zuvor. Ohne den Erfolg der 2007er Champions schmälern zu wollen, verblasst die Bezeichnung als Märchen in Hinblick auf das, was die deutschen Handballer aktuell zeigen – DAS ist ein Märchen! Erst recht, aber nicht nur, wenn die Mannschaft von Dagur Sigurdsson heute auch tatsächlich den Titel einfährt.

Der schwierige Umbruch

Die Weltmeister von 2007 waren beim Titelgewinn auf ihrem absoluten Zenit. Gestandene Spieler, die schon seit Jahren für Topresultate bei internationalen Großereignissen (EM-Titel 2004, Olympia-Silber 2004 u.v.m.) verantwortlich waren und ihre Karrieren krönten. Mit dem zwangsläufig folgenden Umbruch hatten Erfolgstrainer Heiner Brand und sein Nachfolger Martin Heuberger ihre Mühe. Das hatte vielfältige Gründe: angefangen mit verbandsinternen Veränderungen, die nicht jedem passten, über Schwierigkeiten mit einzelnen Personalien und ein nicht zu vernachlässigendes Verletzungspech bis hin zu Problemen mit der Bundesliga. Diese galt – und gilt im Wesentlichen auch heute noch – mit Recht als stärkste Liga der Welt, doch bekamen die jungen, deutschen Talente oft nur wenige Einsatzzeiten, schon gar, wenn sie bei Spitzenvereinen angestellt waren. In logischer Konsequenz führte das alles dazu, dass die Nationalmannschaft an Erfolg und auch an Begeisterungsfähigkeit einbüßte, mündend im sportlichen Verpassen der EM 2014 und der WM 2015.

Eine neue Generation

Doch eben Letztere markierte einen Umschwung für das deutsche Nationalteam. DHB-Vizepräsident Bob Hanning, in Personalunion Manager der Füchse Berlin, hatte dafür gesorgt, dass sein Vereinstrainer auch Bundestrainer wurde – Dagur Sigurdsson. Dieser stellte für das Turnier, bei dem Deutschland aufgrund einer Wildcard doch starten durfte, ein junges Team auf, eine Mischung aus denen, die sich gegen alle Widrigkeiten bei Topklubs durchgesetzt hatten und jungen Talenten, die bei Mittelfeldvereinen auf sich aufmerksam machten. Der Mannschaft, die schon bei der Skandal-WM in Katar erst am gastgebenden Retortenteam scheiterte, wurde eine große Zukunft vorausgesagt. Große Talente wie der Berliner Paul Drux (Jg. 1995!) wurden geführt von einzelnen internationalen Topspielern um den Kapitän Uwe Gensheimer, der auf seiner Linksaußenposition zur Weltklasse gehört, und den extrovertierten Torhüter Silvio Heinevetter. Es schien eine Generation heranzuwachsen, die in den folgenden Jahren wieder für vordere Plätze bei den großen Turnieren sorgen könnte.

Not macht erfinderisch

Das Märchen der EM 2016 besteht nun darin, dass diese neue – möglicherweise goldene – Generation gar nicht dabei ist. Gensheimer und Drux sind ebenso verletzt wie mit Patrick Wiencek und Patrick Groetzki weitere Spieler, die unersetzlich schienen, Heinevetter dagegen fehlt wegen Formschwäche. Weitere Ausfälle erschwerten die Kaderbildung zusätzlich. So hat die Mannschaft nur einen Linksaußen und nur einen Angriffkreisläufer. Doch da Not bekanntlich erfinderisch macht, klagte Sigurdsson nicht, sondern setzte auf höchste taktische Flexibilität und vertraute den unerfahrenen, aber umso hungrigeren Spielern.

Rune Dahmke, der einzige Linksaußen, ist einer von ihnen. Er hat gerade einmal eine halbe Bundesligasaison absolviert, aber soll jetzt einen Weltklassemann wie Gensheimer vergessen machen. Das ist ihm bisher nicht immer gelungen, aber ausgerechnet er erzielte im Halbfinale gegen Norwegen das Tor zur Verlängerung. Heinevetter-Ersatz Andreas Wolf ist ein anderer. Eigentlich als Nummer 2 im Tor hinter dem erfahrenen Carsten Lichtlein eingeplant, wurde der EM-Neuling gleich im ersten Turnierspiel gegen den späteren Finalgegner Spanien ins kalte Wasser geworfen und zeigt seitdem fast durchweg hervorragende Leistungen, die ihm die Ehrung zum besten Keeper der Hauptrunde bescherten. Auf diese Weise brachte das Turnier auch mit Christian Dissinger einen neuen Hoffnungsträger auf der Königsposition auf Halblinks hervor und machte aus dem früheren Mitläufer Steffen Weinhold einen echten Kapitän und Führungsspieler. Prompt verletzten sich auch diese beiden letzten dann im vorletzten Hauptrundenspiel gegen Russland.

Ohne Druck und ohne Zittern

Einmal mehr tritt das deutsche No-Name-Team daher ohne großen Druck auf, schon das erreichte ist ein Riesenerfolg. Trotzdem und vielleicht gerade deswegen tritt es in engen Situationen gefestigt auf, insbesondere vermag es der 23 Jahre junge Abwehrchef Finn Lemke mit seinen Nebenleuten, das Tor in den engen Schlussphasen geradezu zu verbarrikadieren. Dabei agieren sie sehr variabel zwischen verschiedenen Abwehrsystemen und erlauben es dem Gegner nicht, sich auf eine Formation einzustellen. Zwar unterlaufen der Mannschaft von Dagur Sigurdsson mehr technische Fehler als den meisten Topfavoriten, doch scheut sie nicht das Risiko, auch riskante und damit regelmäßig sehr sehenswerte Varianten zu spielen. Klappen diese, ist das gut für die Moral der Mannschaft und reißt die Zuschauer mit – Stichwort Handballbegeisterung.

Ein Schritt bleibt

Mit dem Einzug ins Finale ist der vorletzte Schritt zum ganz großen Traum gemacht. Gegner ist Spanien – mal wieder eine Parallele zu 2007: auch hier traf man im Finale auf den einzigen Gegner, der der Mannschaft bis dahin eine Niederlage hatte beibringen können (damals Polen). Will die Sigurdsson-Sieben diesmal die Spanier besiegen, muss sie wieder mehr in ihr besonders gegen Dänemark gezeigtes mannschaftliches Spiel zurückfinden. Im Halbfinale war sie mehr als einmal auf Einzelleistungen angewiesen; das wird gegen Spanien härter bestraft. Die Iberer verfügen in der Breite sicherlich über den am besten besetzten Kader aller Teilnehmer. Große Stärke im Angriff ist das Spiel über Kreisläufer Julen Aguinagalde, das der deutsche Mittelblock eindämmen muss. Daneben verfügt der Weltmeister von 2013 mit Arpad Sterbik über einen Weltklassetorwart, den die Nationalmannschaft auf keinen Fall warmschießen darf. Überhaupt müssen technische und andere Flüchtigkeitsfehler die absolute Ausnahme bleiben. Gelingt das aber, dann hat die DHB-Auswahl viel mehr als Spanien die Fähigkeit, sich selbst und die Halle mitzureißen und das psychologische Moment auszunutzen. Dann kann die deutsche Mannschaft die Kreativität ihres Coaches ausnutzen, um die Behäbigkeit der Spanier aufzudecken und die ganz große Überraschung perfekt zu machen.

Eine große Zukunft

Was Dagur Sigurdsson mit seinem Team erreicht hat, ist schon jetzt sensationell. Gewinnt seine Sieben am Sonntag den Titel, kann sie damit einen erneuten Handball-Boom auslösen. Doch diesmal ist er mit der berechtigten Hoffnung verknüpft, weitere Nahrung in den folgenden Jahren zu finden, denn anders als 2007 sind die meisten deutschen Handballer erst am Anfang ihrer Nationalmannschaftskarriere. Was dann noch alles möglich ist, wenn auch die Verletzten wieder mit dabei sind, mag man sich gerne ausmalen. Dieses Wintermärchen muss keine einmalige Angelegenheit bleiben.


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