Wenn man das politische Geschehen der letzten Jahre in der Türkei verfolgt, dann fragt man sich regelmäßig, ob sich ihr Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk nicht häufiger sprichwörtlich im Grabe umdreht. Ich bin mir sicher: In den letzten Wochen dürfte er dies nicht nur mehrmals getan haben, sondern er dürfte sogar um seine Türkei weinen.
Das Leben und Wirken Atatürks darf durchaus kritisch gesehen werden, insbesondere sein Umgang mit Minderheiten. Was ihn aber antrieb war eine moderne, offene und laizistische Türkei, die in die westliche Wertegemeinschaft integriert ist. Atatürk schaffte Sultanat und Kalifat ab und verwandelte das Osmanische Reich um in die moderne Türkei. Dazu gehörten die Einführung der Schulpflicht, die Ersetzung des islamischen Rechts durch eine moderne westliche Gesetzgebung, inklusive der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau und der Einführung der westlichen Zeitrechnung sowie des lateinischen Alphabets.
Im Ergebnis war die Türkei der einzige islamisch geprägte Staat der Welt dessen Staats- und Rechtsverständnis den modernen westlichen Prinzipien entsprach. Für mich persönlich war die Türkei immer dadurch geprägt, dass es vollkommen unproblematisch war, wenn türkische Frauen, insbesondere in modernen Städten wie Istanbul oder Izmir, in westlicher Kleidung und ohne Zwang auch im Außenbereich eines Restaurants sitzen und Alkohol trinken durften. Aber gleichzeitig gehörte es für mich genauso zur Türkei, dass es ebenso unproblematisch war, wenn eine islamisch-konservative und entsprechend gekleidete Frau vorbeischritt. Beide Welten konnten nebeneinander koexistieren. Man war liberal eingestellt und hielt das Prinzip der Religionsfreiheit hoch.
Seit 2002 hat die Bekämpfung all dieser Werte einen Namen: Recep Tayyip Erdoğan. Trotz des in der Verfassung verankerten Verbots religiöser Parteien gelang es ihm, die am Rande der Illegalität stehende AKP zu gründen und mit ihr die Wahlen zu gewinnen. Seitdem wird die Religionsfreiheit mit Füßen getreten und die Trennung von Staat und Religion wird schrittweise zurückgefahren. Archaische Strukturen wie die altosmanische Sprache, zukünftig Pflichtsprache im Schulwesen, werden im Sinne einer Symbolpolitik wiedereingeführt und Menschrechte werden massiv beschnitten.
Erdoğans Methode scheint Erfolg zu haben. Mit seiner islamorientierten Politik gelingt es ihm, die Werte der modernen Türkei nach und nach zu ersticken. Am Deutlichsten lässt sich dies dort vernehmen, wo die Stimme der Bevölkerung unverfälscht gehört wird – in Fußballstadien. Am 13. Oktober diesen Jahres wurde im Vorfeld des Länderspiels Türkei gegen Island eine Gedenkminute für die Terroropfer des Anschlags in Ankara gehalten. Diese wurde von Pfiffen und „Allahu-akbar“-Rufen gestört. Seinerzeit konnte man noch argumentieren, dass dies vor allem daran lag, dass das Länderspiel in Konya stattfand, der Hochburg der AKP und der islamistischen Millî Görüş-Bewegung, dass es sich um einen innenpolitisch brisantes Thema handele und dass diese Vorkommnisse nicht erneut vorkommen würden.
Doch in der vergangenen Woche wurde diese Respektlosigkeit noch um ein Vielfaches gesteigert, als erneut eine Schweigeminute stattfand. Dieses Mal aber nicht für die Opfer von Ankara, sondern für die Opfer des IS-Terrors in Paris, das heißt die symbolische Bedeutung und die Außenwirkung waren noch viel stärker und es handelte sich nicht um einen innenpolitischen Sachverhalt, sondern um einen Zeichen gegen den weltweiten islamistischen Terror. Doch auch dieses Mal gab es Pfiffe und islamistische Parolen, und wie im Video deutlich zu vernehmen ist nicht von einer kleinen Minderheit, sondern vom gesamten Stadion und voller Überzeugung. Das Spiel fand jedoch nicht islamistisch geprägten Konya statt, sondern im modernen Istanbul. Spätestens an diesem Punkt musste man sich fragen, was 92 Jahre nach ihrer Gründung aus der modernen Türkei geworden ist, und uns wurde vor Augen geführt, wie erschreckend erfolgreich Erdoğans islamistische Propaganda ist.
Beschränkte sich der Wahnsinn Erdoğans bisher auf die Innenpolitik, so wurde nachdem Abschuss eines russischen Militärjets auf syrischem Staatsgebiet nun auch erstmals ganz deutlich, dass Erdoğan keine Integration in die westliche Außen- und Sicherheitspolitik anstrebt, sondern, dass er zunehmend offen die islamistischen Kräfte im Nachbarland Syrien fördert.
In ihrer momentanen Verfassung ist die Türkei sowohl innen- als auch außenpolitisch untragbar. Sollte sie durch ihre Abschüsse und weitere militärische Aktionen eine Reaktion Russlands provozieren, so könnte sie den NATO-Bündnisfall ausrufen und damit einem Krieg gegen Russland den Nährboden bereiten. Die NATO sollte der Türkei daher die Grenzen aufzeigen und ihr mit einem Rauswurf drohen. Selbst wenn der russische Kampfjet den türkischen Luftraum verletzt hat, so berechtigt dies längst nicht zum Abschuss. Leider tat die NATO das Gegenteil und stellte sich demonstrativ hinter die Türkei.
Wenn man mich fragte, was die Türkei ausmache, dann erklärte ich jedem, sie sei ein Sonderfall, weil sie es als einziges Land der Welt schaffte, den Islam und die Demokratie unter einen Hut zu bringen und dass sie dadurch eine wichtige Brückenfunktion in der Welt einnimmt. Ich plädierte dafür, dass man ihr Staatsverständnis und ihr Wirken in der Welt gerade aus diesem Grund fördern müsse und dass ihre NATO-Mitgliedschaft und ihre EU-Beitrittsperspektive trotz aller Rückschläge durchaus berechtigt seien, weil man der Türkei die Hand reichen müsse, um der Welt und vor allem anderen islamisch geprägten zu beweisen, dass die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie in einem modernen Staatswesen möglich sei.
Aktuell ist es mir leider unmöglich, die von mir geliebte Türkei und ihre liberalen Prinzipien zu verteidigen, manchmal ist mir sogar zum Weinen zu Mute. Und ich bin mir sicher: Mustafa Kemal Atatürk weint im Grabe eine Träne mit mir.
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