Es war ein politisches Erdbeben, das die Landkarte Europas dauerhaft verändern könnte. „27-S“, die katalanischen Regionalwahlen vom 27. September, endeten mit einem Sieg der Separatisten und stürzt Spanien in eine tiefe Verfassungskrise. Das Parteienbündnis „Junts pel Sí“, das vom Liberalen Artur Mas angeführt wird und die separatistischen Parteien aller Couleur vereinigt, kommt gemeinsam mit dem linksseparatistischen Lager CUP auf die absolute Mehrheit.
Für die vier großen Parteien Spaniens, die allesamt für einen Verbleib Kataloniens im spanischen Königreich stehen, war es ein Desaster. Größte Oppositionspartei werden die liberalen Ciudadanos mit knapp 18%, gefolgt von der sozialdemokratischen PSOE mit rund 13%. Das sozialistische Schreckgespenst Podemos versagt mit einem Ergebnis von unter 9% und die konservative Partido Popular, die in Madrid unter Ministerpräsident Mariano Rajoy mit absoluter Mehrheit regiert und den Inbegriff der madrilenischen Zentralmacht darstellt, kommt sogar nur auf 8,5%. Alle anderen Parteien, darunter auch die UDC, die sich von Artur Mas losgelöst hat und nur 2,5% der Stimmen auf sich vereinigen konnte, verpassen das Parlament.
Aufgrund des Ergebnisses hat Madrid nun die Hosen voll, angesichts einer bevorstehenden katalanischen Unabhängigkeitserklärung. Die Zentralregierung und die zentralistischen Medien aus Madrid verweisen darauf, dass das separatistische Bündnis zwar die absolute Mehrheit errungen hat, aber aufgrund der 3%-Hürde jedoch nicht die Hälfte der Stimmen für sich verbuchen konnte, sondern nur 47,8%. Somit sei das Plebiszit, als das Mas die Wahl ausgerufen hatte, gescheitert. Diese fadenscheinige Begründung zeigt, wie verzweifelt Madrid ist angesichts der bevorstehenden Loslösung seiner wohlhabendsten Provinz. Mas entgegnete völlig zu Recht, dass es bei den Wahlen darauf ankam, die absolute Mehrheit zu erringen, um im Regionalparlament die Rückendeckung für einen Prozess zur Unabhängigkeit zu haben, doch es ging niemals darum, 50% der Stimmen auf sich zu vereinigen. Würde man in Katalonien ein Referendum zulassen wie in Schottland, so Mas siegessicher, dann würde man auch mindestens 50% der Stimmen für eine Unabhängigkeit gewinnen können.
Und genau dies wäre die beste Lösung für Spanien. David Cameron ging in Großbritannien in die Offensive und ließ ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum zu. Ähnlich wie Schottland hat Katalonien eine eigene Geschichte eine eigene Kultur, ein eigenes Nationalbewusstsein und darüber hinaus sogar eine eigene Sprache, was ein Referendum wie in Schottland rechtfertigen sollte. Camerons konservativer Kompagnon in Madrid, Mariano Rajoy, hat jedoch, auch angesichts desaströser Umfragewerte und der bevorstehenden Wahlen auf nationaler Ebene, ebenfalls die Hosen voll und lässt dies nicht zu. Dabei könnte solch ein Referendum dem Streben nach Unabhängigkeit ein für alle Mal ein Ende bereiten.
Was stattdessen folgen dürfte ist eine Verfassungskrise. Der Plan von Mas sieht eine Unabhängigkeit binnen 18 Monaten vor, sein zukünftiger Koalitionspartner CUP will sogar unverzüglich die Unabhängigkeit ausrufen. Für diesen Fall hat Madrid schon angekündigt, dass die Zentralgewalt zuschlagen und die Verfassung wiederherstellen wird, indem man Mas von seinem Amt enthebt. Doch was soll das bringen? Würde Madrid einen katalanischen Regierungspräsidenten absetzen, dann hätte dies den Effekt, dass der katalanischen Hydra zwei neue Köpfe wachsen würden: Zum einen würde die separatistische Koalition einen neuen Regierungspräsidenten mit der gleichen politischen Ideologie ins Amt heben, zum anderen würde der Hass der katalanischen Bevölkerung auf die Zentralgewalt in Madrid nur noch steigen.
Schlimmstenfalls drohen bürgerkriegsähnliche Zustände. In Katalonien wird die Exekutivgewalt nicht von der spanischen Policía Nacional ausgeübt, sondern von den Mossos d’Esquadra, einer Polizei, die direkt der katalanischen Nationalregierung untersteht. Um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, müsste Madrid also mit spanischen Polizisten, schlimmstenfalls mit spanischem Militär, gegen die katalanische Polizei vorgehen. Und mittendrin im Schlamassel sitzt mit Mariano Rajoy ein Ministerpräsident, der die Hosen voll hat angesichts der bevorstehenden Wahlen auf nationaler Ebene im Dezember. Er könnte in die Geschichte eingehen als der Ministerpräsident, der die spanische Einheit verloren hat.
Mit Blick auf die das große Ganze ist Katalonien ein weiteres Beispiel für die auseinander driftenden Identitäten in Europa. Die europäischen Nationalstaaten tun sich zunehmend schwerer, ihre Identitäten als souveräne Staaten in einem vereinten Europa aufrecht zu erhalten. So wie sich die Katalanen und die Basken schon lange nicht mehr als Spanier fühlen, so sieht sich heutzutage auch kaum noch jemand als Belgier, sondern primär als Flame oder Wallone. Der ehemalige Vielvölkerstaat Jugoslawien ist schon längst in einzelne, teilweise nicht überlebensfähige Staaten zerfallen. Aktuell kämpft auch Großbritannien um seine Identität – während große Bevölkerungsteile in Schottland unabhängig und Teil der EU sein wollen, wünscht sich ein Großteil der Engländer ein Vereinigtes Königreich außerhalb der EU. Und Frankreich erlebt einen starken Rechtsruck, weil man auch dort Schwierigkeiten eine neue gemeinsame Identität in Zeiten der Globalisierung zu finden. Und so befinden sich große Teile der europäischen Staaten in einer besorgniserregenden Identitätskrise, die sich durch die Migrationsproblematik noch weiter verschärften dürfte. Aufgrund der genannten Beispiele darf man völlig zu Recht bezweifeln, ob die Staaten Europas die integrative Kraft haben, die sie benötigen werden, um ein eigenes Identitätsleitbild für ein vereintes Europa in Freiheit zu entwickeln.
Die bisherigen Teile unserer Reihe über die Wahl 2015 in Spanien:
Teil 1 – Die Wahl 2015 in Spanien
Teil 2 – Der Kampf der Unabhängigkeit in Katalonien
Teil 3 – Die andalusische Heide Simonis
Teil 4 – Das Ende des Zweiparteiensystems
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