Türkei Kurden

Verrat an den Kurden –  Journalistisches Apnoetauchen in den Untiefen des Sommerlochs

Moralokratie

Sommerpause ist, wenn die guten Journalisten zeitgleich mit den guten Politikern Urlaub machen und die Stunde der Boulevardjournalisten schlägt, die versuchen, mit packenden Enthüllungsgeschichten über pralle Promi-Babybäuche, Drogenexzesse in der Jugendstarszene und neu zusammengeschnittene Hitlerreportagen bei ihren Vorgesetzten Eindruck zu schinden, solange die Kollegen nicht da sind und sie mit Rechercheaufgaben quälen könnten. Anders kann man sich die, bis auf wenigen Ausnahmen, fast gähnend langweilige Berichterstattung über das brutale Vorgehen gegen die Kurden durch Erdogan nicht erklären.

Kurdische Verbände haben in den vergangenen Wochen und Monaten fast kontinuierlich Gebiete zurückerobert, die durch den Islamischen Staat besetzt und verwüstetet wurden. Damit ist die Strategie der türkischen Regierung, stillschweigend den IS ziehen zu lassen und zu hoffen, dass sich mit dieser Haltung die Probleme vor den Grenzen des Landes selbst erledigen würden, gescheitert. Neben der breiten weltweiten Sympathie für den Freiheitskampf der Kurden kam 2015 ein erheblicher Wahlerfolg für die HDP, ein Erfolg, der der konservativ-islamischen AKP Erdogans doch glatt die absolute Mehrheit im türkischen Parlament entzog. Dieser Tendenz einer demokratischen Auflehnung gegen den lupenreinen Demokraten des sonnigen Südens setzte selbiger zeitnah die Überlegung entgegen, das Parlament künftig umgehen zu können, und zwar mit Hilfe einer Verfassungsänderung, die ihn als Präsidenten auf Dauer in die Geschichtsbücher betonieren würde. Damit verbunden wäre langfristig auch die Abkehr von der modernen, säkularen und laizistischen Türkei.  Mit die einzigen, die ihm dabei im Parlament im Wege stehen, sind die demokratisch gewählten kurdischen Vertreter, die ihm verständlicherweise die Gefolgschaft verweigern. In den vergangenen beiden Wochen vollzieht sich daher ein aus der Geschichte klassischer Kniff lupenreiner Demokratien und Demokraten, nämlich die Auslöschung des politischen Gegners. Erst erläutert der Ministerpräsident, dass die Friedensverhandlungen zwischen Türken und Kurden eigentlich nicht so wirklich stattgefunden haben und er daher vollkommen im Recht sei, gegen die Terroristen im eigenen Lande vorzugehen.

Über Nacht berichten alle großen Nachrichtenagenturen dann von Angriffen der türkischen Luftwaffe auf Ziele des IS, nur um im Stundentakt die Tickermeldung von „Angriffe auf den IS und PKK“ schließlich auf „Angriffe auf PKK“ und nicht den IS zu korrigieren. Friedensbewegte Europäer, die sich noch vor Monaten die Knie wund gebetet haben, dass die Kurden Kobanê halten können, damit sie wieder mit Frauen und Kindern nur noch Erdogan und nicht mehr den IS fürchten müssen, schauen nun ein wenig beklemmt aus der Wäsche. Glücklicherweise hat Erdogan erst im April 2015 die sogenannten „traurigen Ereignisse“ um die Geschehnisse mit den Armeniern 1915/16 öffentlich als „übertrieben“ dargestellt und hat damit schon einmal eine Steilvorlage für die künftige Aufarbeitung bei seinem Einsatz gegen die Kurden.

Die Vorgänge in der Türkei fallen in die Sommerpause und leider scheint das mediale Interesse eher bei einem griechischen Finanzminister zu liegen, der sich in sein eigenes Ministerium hackt, einem zusammengebrochenen Stuhl in Bayreuth und fallenden Kursen in China zu liegen. Nie war das Zitat von Yuri Orlov aus Andrew Niccols „Lord of War“ so passend: „Man sagt, das Böse siegt, wenn die Guten tatenlos zusehen. Man sollte besser sagen: ‚Das Böse siegt immer`“. Wenn die Welt tatenlos zusieht, liegt es an der türkischen Bevölkerung, selbst einzugreifen. Die Möglichkeit, selbst zu handeln, ist angenehmer als die spätere hypothetische Frage: „Was hätte ich damals besser getan?“. Heute sind es die Kurden, wer ist es morgen?


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Kommentare

2 Antworten zu „Verrat an den Kurden –  Journalistisches Apnoetauchen in den Untiefen des Sommerlochs“

  1. Avatar von Friedhelm S.
    Friedhelm S.

    Vielen Danke für die Wörter die mir seit Wochen fehlen.
    Sie haben es auf den Punkt gebracht

  2. Avatar von Lars
    Lars

    Das die NATO und der gesamte Westen sich hinter den Islamisten Erdogan stellen ist sehr erschreckend. Die Medien werden ihrer Rolle nicht gerecht.

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