Tahrir / Landbevölkerung

Die Landbevölkerung – Der blinde Fleck der Medienvertreter

Verfolgt man die Auslandsberichterstattung in unseren öffentlich-rechtlichen Medien, dann hat man in der Vergangenheit festgestellt, dass urbane Protestbewegungen in den Ballungszentren von weniger entwickelten Ländern deutlich in ihrer Bedeutung überhöht wurden und sich bei den darauf folgenden Wahlen meist herausstellte, dass die Bewegungen offensichtlich überhaupt nicht den als überwältigend wahrgenommenen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Der Grund hierfür ist, dass viele Medienvertreter einen blinden Fleck haben – die Landbevölkerung in diesen Ländern.

 

Hier ein paar Beispiele:

Es begann mit dem Arabischen Frühling im Dezember 2010 in Tunesien. Aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit ging die Bevölkerung gegen die Regierung auf die Straße. Präsident Ben Ali musste das Land verlassen und eine Übergangsregierung wurde gebildet. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hatte suggeriert, dass es eine breite demokratische Front gäbe. Doch bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung kam es dann doch anders: Die Islamisten der Ennahda-Partei gingen als stärkste Kraft hervor. Die deutschen Medien hatten wohl vergessen, dass es neben der geistigen Elite in den Ballungszentren auch eine islamisch-konservative Landbevölkerung gibt.

Ziemlich schnell griffen die Proteste auf Ägypten über, wo große Menschenmassen auf dem Tahrir-Platz demonstrierten. Im Februar 2011 musste Staatspräsident Hosni Mubarak zurücktreten und unsere öffentlich-rechtlichen Medien waren begeistert. Doch auch hier kam die Quittung relativ schnell: Bei den ersten Wahlen nach der Revolution gewannen Muslimbrüder und Islamisten die Mehrheit, und nicht wie von unseren Medien erwartet die jungen und gut ausgebildeten, aber wirtschaftlich perspektivlosen säkularen Demokraten vom Tahrir-Platz. Wieder mal hatte man vergessen, dass es eine konservativ-islamisch geprägte Landbevölkerung gibt, die gemeinsam mit den konservativen Kräften in den Städten die Mehrheit bildet.

Eine ähnliche Medienlage ließ sich 2013 vernehmen, als es in der Türkei große Proteste gegen den damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan gab. Auslöser war die geplante Bebauung auf dem Gelände des Gezi-Parks, die dazu führten, dass sich Protestler auf dem nahegelegenen Taksim-Platz versammelten. Unsere öffentlich-rechtlichen Medien vermittelten den Eindruck, als würde sich ein gesamtes Land vereint dafür einsetzen, den Ministerpräsidenten zu stürzen. Doch auch hier: Weit gefehlt. Als sich Erdoğan im Folgejahr zur Präsidentschaftswahl stellte, gewann er mit einem riesigen Vorsprung von 13% auf seinen Verfolger. Aufs Neue hatte man scheinbar vergessen, dass es in der Türkei starke regionale Disparitäten und ein ausgeprägtes Stadt-Land-Gefälle gibt und die strukturelle Mehrheit auch dort konservativ-islamisch ist. Erneut wurde der Einfluss der Landbevölkerung unterschätzt.

Ein ähnliches Bild ließ sich bei den Protesten auf dem Maidan in der Ukraine feststellen. Auch hier erweckte man den Eindruck, dass man einem Volk helfen muss, seinen Präsidenten loszuwerden. Da war es für unsere öffentlich-rechtlichen Medien auch nicht wirklich wichtig, dass Janukowitsch, trotz all der Schandtaten die er verübt hat, letztlich immer noch der demokratisch gewählte Präsident seines Landes war. Stattdessen ging man davon aus, die Menschen auf dem Maidan repräsentierten die Mehrheit und man müsse diese unterstützen. Aber Proteste ersetzen nunmal keine Wahlen. Dass die Landbevölkerung dies anders sehen könnte und dass es vor allem eine starke russischsprachige Minderheit im Osten des Landes gibt, die sich politisch in eine andere Richtung orientiert, wurde außer Acht gelassen. In Folge dessen gab es erstmals deutlich wahrnehmbare öffentliche Kritik an der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung.

 

Doch worin liegen die Ursachen hierfür?

  • Die öffentlich-rechtlichen Sender haben ein weltweites Netzwerk von Auslandskorrespondenten aufgebaut. Diese konzentrieren sich meistens auf das Geschehen in der Hauptstadt bzw. in der größten Stadt des Landes, was ja auch zunächst einmal plausibel erscheint, da hier die meisten politischen Entscheidungen getroffen werden und viele verschiedene Bevölkerungsgruppen vertreten sind. Diese Fokussierung auf die urbanen Ballungszentren verwischt aber den Blick für die Situation der Landbevölkerung. Die Trennlinien in vielen Ländern verlaufen nunmal nicht mehr so stark entlang der Konfessionen oder der politischen Ansichten, sondern eben auch zwischen Stadt und Land. Die Auslandskorrespondenten kommen im täglichen Umgang primär mit einer modernen und aufgeschlossenen Stadtbevölkerung in Berührung. Dass eine konservative Landbevölkerung gemeinsam mit einer konservativen Minderheit in den Städten eine Mehrheit bilden, wird deshalb oftmals nicht von ihnen wahrgenommen.
  • Aus der Sicht eines Journalisten oder Auslandskorrespondenten ist es mithin deutlich einfacher, die Meinungslage in urbanen Zentren zu greifen, als die soziale Stimmung in der Landbevölkerung. Das liegt daran, dass es in Städten eine größere Hebelwirkung gibt. In der Metropolregion Kairo leben über 16 Millionen Menschen. Gäbe es also große Proteste auf dem Tahrir-Platz, an denen 16.000 Menschen teilnehmen würden, dann würden diese zwar einen großen Eindruck auf unsere Medienvertreter machen, aber dennoch nur rund 0,1% der Kairoer Bevölkerung und weniger als 0,02% der ägyptischen Bevölkerung insgesamt (über 87 Millionen) ausmachen. Hier liegen Wahrnehmung und Realität deutlich auseinander.
  • Hinzu kommt, dass die moderne Berichterstattung auch die Stimmung in den sozialen Medien einbezieht. Die Verbreitung von Smartphones, die das unmittelbare Geschehen in Bild und Ton festhalten, ist in Städten sowohl relativ als auch absolut deutlich größer. Beiträge zu aktuellen Entwicklungen in den sozialen Medien stammen daher zumeist aus den urbanen Metropolregionen und nicht von der Landbevölkerung. Da Bildmaterial aus Krisenregionen zudem häufig ungeprüft gezeigt wird, entsteht schnell ein falscher Eindruck.
  • Letztendlich dürfte auch der Wunsch der Vater des Gedanken und damit die Ursache für die undifferenzierte Berichterstattung sein. Wenn man sieht, dass junge demokratiebegeisterte Menschen gegen einen autoritären Diktator aufbegehren, dann appelliert dies stark an unsere westlichen Moral- und Politikvorstellungen und die meisten von uns, mich eingeschlossen,  wünschen sich, dass dieses Unterfangen auch von Erfolg gekrönt sein wird, was die Darstellung der Sachverhalte stark beeinflusst. Es ist zwar vollkommen in Ordnung, die eigene Bewertung der Umstände einfließen zu lassen und auch deutliche Kritik zu üben. Allerdings muss man diese Kritik klar kennzeichnen und im Gegenzug auch die Sichtweisen und Vorstellungen der Gegenseite objektiv aufzeigen. Nur dann handelt es sich um wirklich objektive Berichtserstattung. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland wird diesem Anspruch oft nicht gerecht.

 

Was hat das für Konsequenzen?

Das Resultat dieser Art von Berichterstattung ist leider, dass in der Öffentlichkeit ein falsches Bild entsteht, welches Grundlage für bedeutende Entscheidungen bedeutender Politiker ist. Auch wenn die meisten von uns die Ziele der Demonstranten teilen, insbesondere die Anliegen in Richtung Demokratisierung, Säkularisierung und wirtschaftlicher Erneuerung, so können wir es nicht begrüßen, dass wichtige Entscheidungen auf Grundlage einer einseitigen Informationslage getroffen werden.

Um die Konsequenzen zu verdeutlichen stelle man sich mal vor, solch ein Szenario ließe sich auf Deutschland übertragen. Theoretisch könnten sich alle Kräfte des linken politischen Spektrums, inklusive der größten Extremisten, zusammentun und eine gewaltige mehrtägige Demonstration auf dem Alexanderplatz gegen die Kanzlerin starten – da kämen mit vereinten Kräften sicherlich ein paar Tausend Personen zusammen.

Im Ausland entstünde der Eindruck, die Kanzlerin würde ihr Volk unterdrücken und es gäbe eine breite Bevölkerungsmehrheit ganz weit links der Mitte, die ihrer Verzweiflung in Protesten Ausdruck verleiht. Die Auslandskorrespondenten der mächtigen Länder in Berlin würden von den Massenprotesten in Berlin berichten und die negativen Aspekte der Kanzlerschaft Merkel in den Fokus stellen. Die politischen Entscheider in diesen Ländern fühlen sich durch diese Medienberichterstattung und die entsprechende öffentliche Meinung unter Druck gesetzt. Sie unterstützen die linken Demonstranten ganz offen, drängen auf die Absetzung der Kanzlerin und fordern Neuwahlen in der Weltöffentlichkeit.

Dass große Teile der Berliner Bevölkerung sowie die Menschen in anderen Städten und die Landbevölkerung nach wie vor hinter Merkel stehen, wird entweder nicht beachtet oder fällt nicht weiter auf.

Zugegeben, dieses Szenario ist sehr unwahrscheinlich und auf Deutschland wohl kaum anwendbar. Es zeigt aber, wie gefährlich solche Tendenzen in weniger stabilen Ländern sein können. Wir sollten daher hoffen, dass die öffentlich-rechtliche Medienberichterstattung differenzierter wird. Im Zweifelsfall kann es nie schaden, auch die Presse der Gegenseite zu lesen, auch wenn dies nicht die eigene Meinung darstellt. Im Endeffekt ist es nämlich immer besser, sich ein differenziertes Bild von der Lage zu machen, statt nur die Medien zu verfolgen, die die eigene Meinung bestätigen.


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Kommentare

2 Antworten zu „Die Landbevölkerung – Der blinde Fleck der Medienvertreter“

  1. […] nahezu allen Ländern kann man den arabischen Frühling als gescheitert betrachten. In Libyen herrscht nach dem Sturz Gaddafis weitestgehend Anarchie, auch […]

  2. Avatar von ukrainer
    ukrainer

    Keine Sorge, die Ukrainer auf dem Land haben die von Wahlfälschungen geprägte Wahl Yanukovitsch nicht vergessen. Spätestens als sein Sohn innerhalb von zwei Jahren Milliardär geworden ist und ihm die größte Bank der Ukraine gehörte, war klar was los ist. Yanukovitsch Familie hat dem Ukrainischen Staat 70 Milliarden Dollar gestohlen, das ist das Jahresbudget.

    Im Osten gab es weniger Unterstützer als Putin dachte. Plötzlich kämpften dort viele gegen die Russen.

    Guckt auf infonapalm.info oder euromaidanpress.org bzw fragt Ukrainer auf Facebook. So schwer is das nich.

    Ukrainer

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