Rawls

John Rawls – Der Sozialliberale

Liberale Denker

Durch die politische Sphäre unserer Zeit schallt ein schauderhafter Begriff. Jeder Politiker verwendet ihn täglich, jede Partei hat ihn in ihre Programme übernommen und es gibt keine politische Ideologie, die ihn nicht für sich beansprucht. Er dient als Kampfbegriff, aber auch zur Beschwichtigung; er drückt soziale Missstände aus und eignet sich ebenso gut zur Beschreibung des sozialen Fortschritts; er kann in nahezu jedem gesellschaftspolitischen Kontext verwendet werden und ist durch und durch ambivalent. Ich spreche von dem Begriff der Gerechtigkeit.

Wenn das linke Spektrum einen Mindestlohn einführt, weil es darin eine „gerechte“ Entlohnung erblickt, so beklagen die Wirtschaftsverbände die „ungerechten“ Lasten, die den Unternehmen damit auferlegt werden. Als Uli Hoeneß aufgrund von Steuerhinterziehungen in Höhe von 28,5 Millionen Euro zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde, da empörten sich viele Menschen über die „Ungerechtigkeit“ dieser (vermeintlich) niedrigen Strafe, andere wiederum sahen in dem Urteil das Ergebnis einer „gerechten“ Justiz. Diese Beispiele zeigen uns, dass man den Begriff der Gerechtigkeit auf völlig verschiedene Weise verwenden kann. Doch was ist das überhaupt, die Gerechtigkeit? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, aber zum Glück haben wir jemanden, der uns dabei helfen kann – John Rawls.

Leben, Werk und Wirkung
John Rawls ist am 21.02.1921 in Baltimore, Maryland geboren. Nach seinem Abschluss an der Princeton University diente er im Zweiten Weltkrieg als Infanterist. Anschließend kehrte er wieder nach Princeton zurück um dort zu promovieren und landete schließlich nach einigen Zwischenstationen als Professor in Harvard. An seinem Hauptwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ hat er ganze zehn Jahre gearbeitet, bis es schließlich 1971 veröffentlicht wurde und ihm quasi über Nacht weltweiten Ruhm bescherte. Rawls, der von seinen Zeitgenossen stets als bescheidener Mensch beschrieben wurde, zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart und seine Gedanken werden bis heute rund um den Erdball diskutiert. Seine Philosophie wird gemeinhin als „egalitärer Liberalismus“ bezeichnet und wendet sich sowohl gegen die libertäre Minimalstaatsphilosophie von Robert Nozick als auch gegen den Kommunitarismus, der an die Tugendlehre des Aristoteles anknüpfen möchte und der – anders als der Liberalismus – das Wohlergehen der Gemeinschaft über das Wohlergehen des Einzelnen stellt.

Der Urzustand und der Schleier des Nichtwissens
Zurück zur wesentlichen Frage: Was ist Gerechtigkeit? Wenn man diese Frage an zehn verschiedene Menschen richtet, dann bekommt man zehn verschiedene Antworten. Was gerecht ist oder nicht, ist umstritten. Doch wie kann man sich von dieser Ratlosigkeit befreien? Rawls nähert sich der Frage nach der Gerechtigkeit zunächst, indem er definiert, wie eine wohlgeordnete Gesellschaft aussieht. Diese besteht aus zwei maßgeblichen Faktoren: 1) Jeder erkennt die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze an und weiß, dass das auch die anderen Gesellschaftsmitglieder tun und 2) Die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen, wie beispielsweise die Verfassung, genügen diesen Grundsätzen. Doch auf welche Gerechtigkeitsgrundsätze soll man sich einigen?

Zur Beantwortung dieser Frage versetzt Rawls die Gesellschaftsmitglieder in einen Urzustand, in dem alle Menschen frei und gleich sind, ganz ähnlich wie im Naturzustand von John Locke. In diesem Urzustand sollen sich die Menschen nun auf die Gerechtigkeitsgrundsätze ihrer künftigen Gesellschaft einigen. Damit der folgende Diskurs aber nicht von persönlichen Motiven beeinflusst wird, stehen die Menschen unter einem Schleier des Nichtwissens. Dieser Schleier bewirkt, dass niemand weiß, wo er künftig in der Gesellschaft stehen wird. Wird man beispielsweise ein Spitzenverdiener oder ein Sozialhilfeempfänger sein? Hat man hohe intellektuelle Fähigkeiten oder nicht? Welche persönlichen Vorlieben gibt es und wo liegen wiederum tiefe Abneigungen? Über all diese Dinge sind sich die Menschen im Urzustand im Unklaren.

Sie verfügen aber sehr wohl über hinreichende Intelligenz und Lebenserfahrung; sie sind sich über allgemeine Fakten im Klaren und können logisch-deduktiv schließen; sie sind dazu bereit Argumente abzuwägen, neue Erkenntnisse zu berücksichtigen, persönliche Distanz zu wahren und sich vorurteilsfrei in andere Menschen hineinzuversetzen. Diese Fähigkeiten sollen sicherstellen, dass die Gerechtigkeitsgrundsätze auf einer möglichst rationalen und vernünftigen Ebene diskutiert werden.

Die Gerechtigkeitsgrundsätze
Rawls zufolge kommen die Menschen unter den im Urzustand herrschenden Bedingungen zu zwei maßgeblichen Gerechtigkeitsgrundsätzen. Der erste Grundsatz besagt, dass jeder das gleiche Recht auf die größtmöglichen und für alle Menschen geltenden Grundfreiheiten hat. Der zweite Grundsatz zielt auf die Gestaltung sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten ab; diese müssen nämlich so gestaltet werden, dass sie 1) für alle Menschen – also auch für die Benachteiligten – vernünftigerweise einen Vorteil erwarten lassen und 2) mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die für jeden Menschen zugänglich sind (Chancengerechtigkeit).

Wichtig ist nun, dass sich diese Grundsätze in einer lexikalischen Ordnung befinden, d.h. der erste Grundsatz – der Grundsatz der Freiheit – muss immer erfüllt sein, bevor der zweite Grundsatz erfüllt werden kann. Eine Gesellschaft, in der die Menschen unfrei aber trotzdem gleich sind, ist für Rawls unannehmbar. Genauso ist aber auch das individuelle Streben nach Gewinn nachrangig gegenüber dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz. Ein Gesellschaftsmitglied, das über eine sehr hohe Stellung verfügt, darf seine Stellung also nur unter der Voraussetzung weiter verbessern, dass die am schlechtesten gestellten Gesellschaftmitglieder von dieser Besserstellung profitieren. Dies kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass die Besserstellung zu einem höheren Steueraufkommen führt, welches wiederum zur besseren Finanzierung von Schulen oder ähnlichem beiträgt.

Schlusswort
Welcher der beiden Denker gefällt Ihnen besser – John Rawls oder Robert Nozick? Sind Sie eher sozialliberal oder libertär? In meinem nächsten Beitrag werde ich Ihnen mit John Stuart Mill einen älteren Denker vorstellen, der mit seinem Werk „On Liberty“ eines der grundlegendsten Bücher der liberalen Philosophie geschrieben hat. Den Leserinnen und Lesern, die sich intensiver mit John Rawls beschäftigen möchten, sei „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ wärmstens empfohlen.


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